Georgia Illetschko
Nagel auf den Kopf

Das konnte ja kaum anders kommen, möchte man meinen. Wenn da einer, in dessen künstlerischem Werk die Kopfplastik eine Hauptrolle spielt, „bei den Köpfen“ geboren oder wiedergeboren wurde – in Biedenkopf, wo die Hügel des Umlandes „Köpfen“ gleichen. Natürlich ist es ein Kalauer, aber die besten Kalauer schreibt das Leben. Was kann das Wortspiel dafür, wenn das Schicksal so gut trifft? Und wenn es eine Seele aus Afrika – „Meine Afrikanische Seele“ – ausgerechnet in eine mittelhessische Kleinstadt verschlägt, wo eine legendäre Mohrengestalt alle sieben Jahre zum institutionalisierten Überschreiten der Grenze antritt?

„Grenzgang Marsch!“ – mit diesem in seiner Mehrdeutigkeit surreal-poeti-schen Kommando setzt in Biedenkopf alle sieben Jahre der Bürgeroberst Rosse, Reiter, Männergesellschaften und Burschenschaften sowie tausende Einwohner und Besucher in Bewegung, die in drei Tagen unter großem Zeremoniell die Gemarkungen des Biedenkopfer Stadtwaldes abgehen: In diesem auf germanische Wurzeln zurückreichenden, besonders aber seit dem 17. Jahrhundert neu belebten Ritual soll der „Mohr“ gemeinsam mit den peitschenknallenden „Wettläufern“ die eigenen Bürger wie die eventuell neidvollen Bewohner der Nachbargemeinden aufwecken und dafür sorgen, dass alle der Grenze gewahr werden. Im Gegensatz zu den Männergesellschaften mit ihren schneidig gezückten Säbeln führt der Mohr seinen Säbel jedoch mit tänzerischer Anmut.

„Grenzgang Marsch!“: Grenzlinien entlangtänzeln, abschreiten, abtasten, sie herausfordern und gleichzeitig hüten – auch darin kann ein künstlerisches Lebensprogramm wurzeln. Einer, der an die Grenzen geht und Grenzen berührt, ist ein Kundschafter ebenso wie ein Vermittler. Der wundersame und punktgenaue englische Begriff „Go-between“ bezeichnet genau diese Funktion einer Person, die als „Zwischengänger“ zum Mittelsmann, zum Medium wird.

Einer, der über Grenzen tanzt, – ob es nun die zwischen Afrika und Biedenkopf sind, oder jene zwischen Himmel und Erde – kann Gegenwelten abtasten, herausschälen, herausschnitzen und gleichzeitig transformieren. Er kann topographische, kulturelle, ja selbst zeitliche Disparitäten aufheben. Er kann Zeitsprünge springen und als Go-between demonstrieren, dass im allerletzten Grunde alles eins ist.

So einer kann zeigen, dass alles mit allem zusammenhängt und verbunden ist. Er kann scheinbar Gegenläufiges ganz machen, heilen. Er kann...


Köpfe mit Nägeln machen

Eigentlich ist es ja ein technisches Detail, möchte man meinen. Aber Zufälle gibt es auch hier nicht. Sonst hätte es ja auch ganz anders kommen können. So jedoch ergab sich, dass ein junger Künstler zu Beginn seiner Laufbahn die Gipsmodelle entgegen den Usancen nicht der Endfertigung überließ, sondern eigenhändig goss und dann von der Magie des Arbeitsprozesses gefangen blieb. In vielen Werken erschienen die Kernnägel nicht mehr als überflüssiger, ja peinlicher Kulissenzauber, den es post festum weg-zuschnipseln galt, sondern sie blieben stehen als Positionsmarken und Erinnerung an das Vorher. Wo es ein Vorher gibt, gibt es auch ein Nachher, gibt es Zeit und Leben.

Im Non-finito atmet das Werk weiter. Wo die Gusshaut erhalten bleibt, spürt man den veränderlichen Zustand lebendiger Haut zwischen der archaischen Aura alter Grabungsexponate und der noch oder schon wieder verwitterten Anmutung eines transitorischen Subjekts. Bleibt am Scheitel einer Holzskulptur auch nach Vollendung noch der Rest des Stammes stehen, mit dem sie zur Bearbeitung eingespannt war, so verweist sie damit auch noch zurück auf ihre Existenz als Baum. Oder ist sie, wie in Geborgen, dem Vorleben noch ganz verwachsen wie auch George Tabori dem Mutterschoß.

Als Andockstellen des Vorlebens sind die Kernnägel, Gusskanäle und Grate, die technischen Zeugnisse des Entstehungsprozesses, gleichzeitig auch Verweise auf ein implizites Nachleben. Sie sind gleichsam Passierscheine aus dem Vergangenen ins Zukünftige, die den der Skulptur generell inne-wohnenden Anspruch des ewig gültigen Statischen unterlaufen.

Manchmal bleiben die Gusskanäle und Grate als wesentliche Gestaltungs-elemente und Attribute stehen, mitunter bilden sie aber auch ein die menschliche Figur essentiell komplimentierendes Geflecht, das dieser erst ihren Bezug zum Raum, ja Halt verleiht. In anderen Werken erscheint dieser Halt auch als Gefängnis und Folter.

Durch die Residuen des technischen Schaffensprozesses weisen die Figuren über ihre isolierte Existenz hinaus und werden so selbst zu Grenzgängern zwischen den Medien, Sphären und Zeiten. Als Nabelschnüre und -reste des Vorlebens, verweisen die Nägel und Gusskanäle auf ein größeres Seinskontinuum. Nägel und Löcher in Kopf und Körper mögen unserem Blick aufs Erste destruktiv erscheinen, als Störung, ja Verletzung des Individuums – als Narben von Boschs alptraumhaften Folterkreaturen, die sich auf jedmögliche Weise Zugang zum menschlichen Körper verschaffen, um diesen zu traktieren. Mitunter künden auch hier Nägel und Löcher im Kopf von Leiden und Schmerz.

In der abendländisch-humanistischen Tradition gilt die vollendete, perso-nalisierte Portraitbüste als ein Höhepunkt der plastischen Gestaltung, die das souveräne Individuum zu ewig gültiger Erhabenheit erhebt – jeder Portraitierte ein kleiner Imperator, eine kleine Gottheit. Heroisch, selbst dann, wenn er gefallen ist oder von Werkzeugen und Instrumenten durchbohrt. Die Erhabenheit einer feierlichen Portraitbüste kennzeichnet auch das Selbstportrait des Künstlers. Bei aller gotischen Ökonomie und einer Gesamthöhe von nur 20 cm strahlt sie das Pathos und die auratische Monumentalität eines mittelalterlichen Kopf-reliquiars aus.

Doch das Wesen eines Kopfreliquiars gibt auch einen wertvollen Hinweis: der in unserer Kultur als äußerster Ausdruck des Individuums gehandelte Kopf – er ist auch nur eine Schachtel. Im Hochmittelalter lebte die antike Portraitbüste in Form der Kopfreliquiare neu auf, die nicht der Wiedergabe individueller Züge dienten, sondern als magisches Gehäuse für heilige Reliquien – so wie nach der augustinischen Lehre der Kopf als Sitz der Seele galt. In der abendländischen Tradition ist diese Idee seither einigermaßen aus der Mode gekommen. Doch in der afrikanischen Tradition der Yoruba lebt die Idee des Kopfes als Gefäß weiter in der Vorstellung, dass es einen äußeren Kopf (ori òde) gibt, in den der innere, spirituelle Kopf (orí inú) bei der Geburt eingepflanzt wird. Während der äußere Kopf ein transitorischer ist, ist der innere Kopf das wahre Sein, die von Gott verliehene Seele, die nach der irdischen Reise schließlich wieder zur Schöpfung zurückkehrt. Das innere Double fungiert als schützender Begleiter, als Navigationshilfe und als Andockstation für das Göttliche auf dem irdischen Lebensweg. Was liegt also näher, als die Kommunikations-Kanäle offen zu halten, mag es nun Bronze oder die Seele sein, die von einem Schöpfer eingegossen wird?

In den Bronzeköpfen aus Yoruba-Königreich Benin finden sich häufig Löcher, die mitunter dazu dienten, an den Köpfen Bärte und Haare anzubringen. Ubbo Enninga behält die Löcher in den „afrikanischen“ Kopfplastiken ebenfalls bei und steigert sie darüber hinaus ebenso ins höchst Expressive, wie die Nägel, die den Kopf als Strahlenkranz umgeben oder als Dreadlocks ein Medusenhaupt formen. Nagel auf den Kopf, oder Nagel aus dem Kopf? Ist es der Nagel, der den Kopf trifft, oder der Kopf, aus dem der Nagel hervorwächst?


zurück

   Biographie

1955 in Biedenkopf geboren
1975-76 Studium an der Philipps-Universität Marburg
1976-77 Studium an der Hochschule für Bildende Künste Kassel
1977-83 Studium an der Kunstakademie Stuttgart
seit 1983 freischaffender Bildhauer
1984 Heirat mit Elcilyn
1983-86 Lehrauftrag für Bronzeguß an der Kunstakademie Stuttgart
1983 Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg
1985 Villa Romana, Florenz
1991 Atelierstipendium Baden-Württemberg
1992-93 Lehrauftrag für Zeichnen im Fachbereich Architektur der Universität Stuttgart
Lebt und arbeitet in Berlin und Stuttgart.


Bibliographie

Peter Arlt
Dialoge
Katalog zur Ausstellung
Erfurt, 1994, S. 7-10

Jos Arnold
Dreidimensionale Gestaltung
GhK Prisma Nr.16, Kassel 1977, S. 130-133

Hubert Böhner
Worte
in: Ubbo Enninga, Skulpturen
Ostfildern-Ruit (Cantz-Verlag), 1995, S. 6/7, S.32-111

Doris Braus van Essen
Erotik - Neue Bilder zu einem alten Thema
Katalog zur Ausstellung im Heidelberger Schloß
Heidelberg, 1993, S. 5-7

Ubbo Enninga
Alte Welt ‐ Neue Welt
Text im Katalog zur Ausstellung
Stuttgart, 1999, S.10

Ubbo Enninga
Vision Manifestation
Katalog zur Ausstellung
Stuttgart,1992

Lydia Funk
in: Ubbo Enninga, Skulpturen
Ostfildern-Ruit (Cantz-Verlag), 1995, S.44-98

Marita Henkel
25-jähriges Jubiläum des
Abiturientenjahrgangs 1973
in: Lahntalschule Biedenkopf Jahrbuch 1998/99,
Haiger,1999, S. 28-36

Birgit Hund
Holz-wege
Katalog zur Ausstellung
Göppingen, 1992, S.17-21

Ingeborg Kimmig
Stipendiaten der Kunststiftung
Katalog zur Ausstellung
Stuttgart, 1983

Werner Marx
Skulptur vor Ort
Katalog zur Ausstellung
Heilbronn,1995, S. 6/7

Werner Meyer
Skulpturen im Stadtraum
in: Grossplastiken
Korntal-Münchingen, 1993, S. 6/7

Gerhard Pätzold
40 Jahre Marburger Kunstverein
Katalog zur Ausstellung
Marburg, 1993

Otto Pannewitz
Kunst Gegenwärtig
Katalog zur Ausstellung
Sindelfingen, 1994, S. 9-12

Eberhard Pröger
Grossplastiken
Katalog zur Ausstellung
Korntal-Münchingen, 1993, S. 10

Eberhard Pröger
Enninga im Alten Bau
in: Ubbo Enninga, Skulpturen
Ostfildern-Ruit (Cantz-Verlag), 1995, S. 24-30

Eberhard Pröger
Lyrische Seele Archaische Präsenz
Lotrecht im Kopf
in: Ubbo Enninga, Skulpturen
Ostfildern-Ruit (Cantz-Verlag), 1995, S. 62/63

Mihai Tropa
Eros ‐ Die Würde
in: Ubbo Enninga, Skulpturen
Ostfildern-Ruit (Cantz-Verlag), 1995, S. 21/22

Anke Seitz
Ubbo Enninga und Jürgen Kubben:
Ein Spiel der Gegensätze?
in: Skulpturenrundweg Innen & Außen
Rechberghausen 2007

Reinhard Valenta, u. a., Hrsg.
Dialoge
Buch zur Ausstellung in Wehr/Baden
Kronach (Angles-Verlag), 2003

Andreas Vogel
Zwischen Tradition und Transzendenz
in: Ubbo Enninga, Skulpturen
Ostfildern-Ruit (Cantz-Verlag), 1995, S. 10-30

Rainer Wehr
Der Blick, der das Porträt hervorbringt.
Stuttgart, 1988, S. 33-35

Gabriele Zimmermann
Ubbo Enninga
Katalog zur Ausstellung im Kunsthaus Bühler
Stuttgart, 1994, S.92